Einhörner |
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Der Drache und Dorian kamen zu einer
Lichtung, auf der munter ein kleines Bächlein plätscherte. Drag-en
schnupperte einmal mit seinen großen Nüstern, nickte dann und wies
Dorian an, sich hinter dichtem Gestrüpp zu verbergen.
"Was hast du denn gerochen? Und
warum müssen wir uns verstecken?", fragte Dorian neugierig.
"Ganz eindeutig liegt über dieser Lichtung der Zauber eines
Einhorns. Diese Wesen sind sehr scheu. Daher sollten wir uns verstecken,
wenn wir eines zu Gesicht bekommen wollen."
"Och, ein Einhorn. Ich wollte schon immer mal eins sehen."
Dorian war ganz aufgeregt und zappelte ungeduldig herum.
"Also bei dem Lärm, den du mit deiner Ungeduld verursachst,
können wir lange auf ein Einhorn warten. Sei doch endlich still."
Dorian zuckte zusammen, weil in der
Stimme des Drachens Ungeduld lag, die vorher nicht da gewesen war.
Irgendetwas schien den Drachen in höchste Anspannung zu versetzen.
"Was ist denn los, Drag-en?",
flüsterte Dorian dem Drachen zu.
"Psssst, da kommt es schon."
Sowohl Dorian als auch der Drache
verkrochen sich noch mehr in den Büschen und waren
mucksmäuschenstill.
Schweeweiß schimmerte
das Fell des Einhorns, das sich vorsichtig umschauend die Lichtung
betrat. Schweif und Mähne fielen in silbrigglänzenden Strähnen
herab und das spiralenförmige Horn auf der Stirn funkelte kurz im
Licht der Sonne. In tänzelnden Schritten trabte es zum Bach, um
dort zu trinken.
Ein Mädchen trat hinter dem Baum hervor und näherte sich
vorsichtig dem Einhorn. "Warum läuft das Einhorn
nicht weg, Drag-en?", flüsterte Dorian.
"Die einzige Schwäche des Einhorns ist der Zauber einer
Jungfrau. Nur von einer Jungfrau lässt es sich berühren."
Sanft streichelte das Mädchen die Mähne des
Einhorns. Dann setzte sie sich an den Bach und das Einhorn legte
sich zu ihr, wobei es seinen Kopf in ihren Schoß kuschelte. Das
Mädchen zog einen Spiegel aus ihrem Gewand und das Einhorn starrte
ganz verzückt auf sein Bildnis.
Da sprangen Jäger aus den Büschen hervor und überwältigten das
Einhorn, fingen es mit Netzen und töteten es. In dunklem Rot
tropfte das Blut auf dem weißen Fell des Einhorns. Die Jungfrau war
schreiend hinfort gerannt, entsetzt über den Verrat, den sie
begangen hatten. Die Jäger indessen trennten das Horn vom Kopfe des
Wesens und hielten es triumphierend in die Luft.
"Drag-en, das ist ja furchtbar. So tue doch
etwas."
"Zu spät, mein kleiner Freund. Das Schicksal hat nun seinen
Lauf genommen. Doch sei getrost, es war nicht das letzte seiner
Art."
"Warum haben sie ihm das Horn abgenommen?"
"Die Menschen glauben, dass es ein sehr wirksames Antitoxin
ist. Wenn man das Horn in einen Fluss oder See eintaucht, dann
werden diese von allen Übeln gereinigt. Außerdem soll es gegen
alle Arten von Giften helfen. Ein Einhorn ist stark und schnell.
Unter normalen Umständen würde es den Jägern nie gelingen, eines
zu fangen. Doch sie benutzen unschuldige Jungfrauen als Fallen. Nur
sie können das Einhorn mit einem Bann belegen. Doch schau, was nun
geschieht."
Die Jäger waren mittlerweile fortgegangen und
hatten den Kadaver des Wesens liegen lassen. Die Jungfrau war
zurückgekehrt und weinte nun bitterlich an der Leiche des Einhorns.
Ihre Tränen tränkten das Fell und wuschen das Blut heraus. Als
eine ihrer Tränen nun auf die Stelle fielen, an der einst das Horn
gewesen war, erklang mit einem Male eine glockenheller Ton. Aus der
noch blutenden Wunde wand sie ein neues Horn hervor. Wiehernd schlug
das Einhorn die Augen auf und sprang auf die Beine. Dann drehte es
sich zu den Büschen um, in denen Dorian und Drag-en versteckt
waren. Es nickte einmal huldvoll mit seinem Kopf und verschwand dann
geschwind in den Wald.
Drag-en jedoch lachte leise.
"Jemand hat wohl deinen Wunsch erhört, Dorian. Denn dies war
ein Wunder, das in keiner Geschichte je erzählt wurde. Aber
manchmal müssen Geschichten wohl neu erzählt werden."
Er stupste Dorian mit seinem Flügel an und sie gingen gemeinsam von
der Lichtung fort.
(Ausschnitt aus einem franz.
Gobelin des 15. Jh.)
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