Griechische Mythologie
Die Odyssee |
|
Im Land der Kyklopen
Die Blendung von Polyphem
(Alessandro Alloriy, Fresko, 1580)
"Fremdlinge, sagt, wer seid ihr? Von wannen trägt euch die
Woge? Habt ihr wo ein Geschäft, oder kreuzt ihr ohne Bestimmung
Hin und Her auf der See, wie landumirrende Räuber, Die das
Leben wagen, um bei den Fremden zu plündern? Also sprach der
Kyklop. Uns brach das Herz vor Entsetzen Über das raue Gebrüll
und das schreckliche Ungeheuer." (Odyssee, Neunter Gesang, Vers
252-257, Homer) Richtung Norden segelten die Schiffe
des Odysseus und landeten an einer kleinen, dichtbewaldeten Insel.
Menschen wohnten hier nicht, nur Ziegen durchstreiften in großen
Scharen die Ebenen. Am Ufer erblickten sie eine Felsenhöhle, die
von Sträuchern zugewachsen war. Odysseus wählte zwölf seiner
Gefährten aus und betrat mit ihnen das Land. Die Weinschläuche des
Priesters Maron, die er in Ismaros geschenkt bekommen hatte, nahm
er mit. Die Höhle war verlassen. Sie fanden dort drin
Körbe voller Ziegenkäse und Schafe wie Lämmer in unterirdischen
Pferchen. Hier wohnte der Riese Polyphem, Sohn des Poseidons, und
wie alle Kyklopen besaß er nur ein Auge inmitten der Stirn. Er
hatte so ungeheure Kraft, dass er einen Felsen wegwälzen und
Granitblöcke durch die Luft schleudern konnte. Die Gefährten
drängten Odysseus, vom Käse zu nehmen und die Schafe auf ihr
Schiff zu treiben. Aber Odysseus war neugierig und wollte den
Herrn dieser Höhle kennen lernen. Und so fand Polyphem bei
seiner Rückkehr die Fremdlinge in seiner Höhle vor. Mit einem
riesigen Felsbrocken versperrte er den Zugang zur Höhle, so dass
die Griechen nicht fliehen konnten. Mutig trat Odysseus vor und
bat um Schutz. Polyphem verlachte ihn nur, packte zwei seiner
Gefährten und fraß sie auf. Seelenruhig legte er sich danach zum
Schlafen nieder. Odysseus überlegte, ob er sich auf ihn stürzen
und ihm das Schwert ins Herz stoßen sollte. Doch er verwarf den
Plan. Denn wer hätte den riesigen Felsbrocken vom Eingang der
Höhle weggerollt? Angsterfüllt warteten sie auf den Morgen.
Wieder verschlang Polyphem zwei seiner Begleiter. Dann trieb er
seine Ziegenherde hinaus und verschloss den Eingang sorgsam mit
dem Felsen. Da ersann der listige Odysseus einen Plan. In der
Höhle lag die Keule des Kyklopen, so lang und dick wie ein
Mastbaum. Davon schlugen sie einen Teil ab, spitzen es zu und
härteten es im Feuer. Damit wollten sie den Kyklopen blenden. Als
Polyphem heimkehrte, verschlang er wieder zwei Gefährten des
Odysseus. Dieser trat mutig zu dem Kyklopen und bot ihm von dem
süßen Wein an. Gierig trank er davon und wurde sogar ein wenig
freundlicher. "Schenk mir noch ein", sprach der Kyklop zu ihm,
"und nenne mir deinen Namen, damit auch ich dich bewirten kann."
So schenkte ihm Odysseus fleißig nach und sprach zu ihm "Niemand
ist mein Name, denn Niemand nennen mich alle, meine Mutter, mein
Vater und alle meine Gesellen." Zum Dank versprach der Kyklop, ihn
erst zuletzt zu verspeisen. Betrunken legte der Kyklop
sich zum Schlafen niederlegte. Da holten sie den Pfahl aus seinem
Versteck und steckten die Spitze in die glühende Asche bis sie
Feuer fing. Mit aller Kraft stießen sie ihn in das Auge des
Kyklopen. Über die ganze Insel hallte das klägliche Schreien des
Polyphem. Die anderen Kyklopen eilten sofort herbei und fragten,
was ihm widerfahren sei. Polyphem antwortete: "Niemand würgt mich
mit Arglist!" Da lachten sie nur und gingen wieder. Am
nächsten Tag ließ Polyphem seine Schafe aus der Höhle heraus.
Vorsichtig tastete er ihre Rücken ab, um sicher zu gehen, dass die
Fremden nicht auf ihnen fliehen würden. Diese hatten sich jedoch
unter den Bäuchen der Schafe an das dichte Fell geklammert. So
täuschten sie Polyphem und entkamen aus seiner Höhle. Als sich die
Schiffe von der Insel entfernten, da höhnte Odysseus und sprach zu
Polyphem: "Höre, Kyklop! Wenn dich je ein Mensch fragen sollte,
wer dich geblendet hat, so sage ihm, Odysseus, Sohn des Laertes,
der Vernichter Trojas, war es!" Voll Zorn schleuderte der Kyklop
einen Felsbrocken nach dem Schiff, der es verfehlte. Unbehelligt
segelte Odysseus mit seinen Männern fort. Doch Polyphem
sprach zu seinem Vater Poseidon und bat ihn, Odysseus die Heimkehr
zu verwehren. Spät erst, ohne seine Gefährten, unglücklich und auf
einem fremden Schiff sollte er nach Hause finden und dort nur das
Elend vorfinden. Und Poseidon erhörte seinen Sohn und so begannen
die Irrfahrten des Odysseus.
« zurück | weiter »
|